Liturgie als „geistlicher Weg“

In der Abfolge der einzelnen Phasen der Liturgie mit ihren Elementen, die durchaus geschichtlich entstanden und gewachsen sind, lässt sich ein geistlicher Weg in konsequenten Schritten mitgehen. Man kann dies einen „Lernprozess“[10] nennen, Liturgie aber auch als theologisches Spiel oder in Szene gesetztes Bekenntnis begreifen, wobei solche „Inszenierung des Evangeliums“[11] sehr sorgfältig gestaltet und die der Liturgie innewohnende Dramaturgie beachtet werden sollte. Selbstverständlich steht auch das – wie alles geistliche Geschehen – unter dem „Vorbehalt“, dass es der Heilige Geist ist, der den Glauben wirkt, „wo und wann er will“[12], was menschliches Bemühen nicht überflüssig macht.

Eröffnung (sich sammeln)

Orgel

Wir sind eingeladen, Gottes Gegenwart zu feiern. Wir unterbrechen den gewohnten Alltag und versammeln uns im Namen des dreieinigen Gottes. Die äußere Versammlung der Gemeinde soll durch innere Sammlung vertieft, der Übergang von alltäglichen Situationen zum gottesdienstlichen Feiern ermöglicht werden. Durch Musik, Begrüßung und gemeinsamen Gesang sollen wir spüren, dass wir im Gottesdienst willkommen sind.

Anrufung (widersprüchliche Erfahrungen artikulieren)

Schola

Wir wenden uns Gott zu mit unseren Anliegen. Fragen wie Zuversicht können in einem biblischen Psalm laut werden. Das Eingeständnis von Not und Versagen, verbunden mit der Hoffnung auf Befreiung prägen den Bittruf des Kyrie (Herr erbarme dich). Der große Lobgesang „Ehre sei Gott in der Höhe“ wird immer wieder angestimmt, wegen seines festlichen Charakters jedoch in Bußzeiten (Advent und Passion) darauf verzichtet. Ein zusammenfassendes Tagesgebet schließt den Anrufungsteil ab, in dem oft spannungsvolle Gesichtspunkte miteinander in Beziehung gesetzt und zur Sprache gebracht werden: Gott und Mensch, Erfahrungen und Erwartungen, Verheißung und Erfüllung, Sorge und Dank, Einzelne und Gemeinschaft ...

Verkündigung (Orientierung finden)

Kanzel

Gottes Wort begegnet uns in der Bibel und ihrer Auslegung. Erfahrungen des Volkes Israel, die Geschichte und Verkündigung Jesu von Nazareth, sein Tod und seine Auferstehung, die Entwicklung seiner Gemeinde und deren theologisches Nachdenken – darin spricht Gott uns an. Gerade die Verkündigung ist als dialogischer Prozess angelegt, in dem mehrere Texte (Altes Testament, Briefe, Evangelium) miteinander „ins Gespräch“ gebracht werden, sich dies fortsetzt in der Predigt zum Dialog der hörenden Gemeinde mit der biblischen Botschaft, und sich in der Aufnahme des Gehörten in Gesängen, Liedern oder Werken der Kunst (z. B. Kantate, Bildbetrachtung, Performance) vertieft.

Antwort / Bekenntnis (bereit sein zum Engagement)

Fürbitte

Das so vernommene Wort Gottes zielt auf unsere menschliche Antwort, die liturgisch in verschiedener Richtung (1 Kor 13,13) entfaltet wird. Was verkündigt wurde, will grundlegend Glauben wecken und ihn stärken, der sich im Bekenntnis (Credo) ausspricht. Verkündigung lässt Hoffnung und Zuversicht entstehen, so dass mit der Fürbitte diese Welt in den Horizont einer guten Erwartung von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung für alle Menschen und die ganze Schöpfung gestellt wird. Sie soll schließlich zu gelebter Liebe ermutigen, indem wir uns selbst zum Dienst mit unseren Gaben und Fähigkeiten einbringen (Opfer/Gabensammlung), durchaus unsrer menschlichen Grenzen und Gebrochenheiten bewusst.

Abendmahl (vorbehaltlose Gemeinschaft erfahren)

Eucharistie

In aller Vorläufigkeit dieser Welt sollen wir bei der Feier des Vermächtnisses Jesu des Heiles Gottes gewiss werden. An seinem Tisch wird uns Versöhnung, Überwindung der Sünde und Gottes verwandelnde Kraft zuteil. Liturgisch werden im Abendmahl gleichsam die (vier) „Aktionen“ vergegenwärtigt, wie sie in den Einsetzungsworten überliefert sind: Wir nehmen mit Brot und Wein (Gaben der Schöpfung und der menschlichen Arbeit) unser alltägliches Leben hinein in die Feier und sagen Dank für Gottes gütiges Wirken seit Anbeginn der Welt, gedenken der Rettung in Christus, bitten um Erfüllung der Verheißungen durch den Heiligen Geist, sehen uns in die weltumspannende Gemeinschaft der Christen gestellt und blicken erwartungsvoll auf das kommende Reich. All das bekräftigen wir mit dem Tischgebet des Vaterunsers. So brechen wir das Brot, sollen wir doch Heil im Gebrochenen empfangen, und uns werden die Gaben Jesu gegeben, damit wir im Frieden versöhnte Gemeinschaft mit Gott und untereinander erfahren: Verbindung durch Christus, persönliche Annahme und Vergebung, Stärkung auf dem Weg, Vorgeschmack der Ewigkeit.

Sendung (sich erneuert dem Alltag zuwenden)

Kommunion

Beschenkt und vergewissert durch Gottes Zuwendung und Herausforderung im vernommenen Wort und empfangenen Sakrament, sehen wir neu unsere alltäglichen Aufgaben. Die Kraft der Zusage Gottes und seines Segens trägt und begleitet uns, damit wir in Verantwortung und Nächstenliebe den empfangenen Frieden in die uns anvertraute Welt hineintragen. Der gefeierte Gottesdienst mit seinen Stationen ist bezogen auf den Gottesdienst im Alltag der Welt, wo Verantwortung im Sinn Jesu geübt, das eigenen Leben mit seinen Freuden und Leiden, seinen Ansprüchen und Versagungen in seiner Nachfolge gewagt wird.

Osterkerze

Berücksichtigt man die Jahrtausende alte Symbolik, dass es gerade der Sonntag als Auferstehungstag ist, der den regelmäßigen Rhythmus für den christlichen Gottesdienst vorgibt, erinnert man sich der Emmaus-Geschichte (Lukas 24,13-45), deren typische Etappen sich durchaus in den Phasen der Liturgie[13] wiederfinden lassen: Aufbrechen (Sammlung) – Fragen (Anrufung) – Hören (Verkündigung) – Antworten (Bekenntnis) – Einladen zum Mahl (Abendmahl) – Aufbrechen (Sendung) – , dann lässt sich im Gottesdienst – neben der je aktuellen inhaltlichen Füllung (entsprechend dem Kirchenjahr) – , eine stets aktualisierte Ostergeschichte erkennen. Inhaltlich an verschiedenen „Themen“ und mit einer Fülle biblischer „Texte“, aber letztlich im Kern gleichbleibend , vergegenwärtigt der christliche Gottesdienst das, was durch Kreuz und Auferstehung Christi für den Menschen geschehen ist: die dort sichtbar werdende Zuwendung Gottes zur Welt, die Bezeugung der Gnade angesichts von Grundfragen wie Tod, Schuld und Sinnlosigkeit – als Rechtfertigung des Sünders, als Vergebung – und um mit Luther zu sprechen „wo Vergebung der Sünde, da ist Leben und Seligkeit“. (M. Luther, Katechismus)
 
Autor:
Reinhard Brandhorst, Pfarrer i. R., Stuttgart, lebt in Stuttgart.
Werke und Aktivitäten:
Neuerarbeitung der Lesung der Heiligen Schrift im Kirchenjahr, 1997,
Mitarbeit am Evangelischen Tagzeitenbuch, 4. völlig neugestaltete Auflage 1998,
korrespondierendes Mitglied in der Arbeitsgruppe Perikopenreform (EKD, UEK, VELKD),
Redakteur der Webseiten www.evangelische-liturgie.de und www.evangelisches-brevier.de

[1] Evangelisches Gottesdienstbuch (Taschenausgabe), Berlin 2000.
[2] Orientierungshilfe „Der Gottesdienst“ (EKD), Gütersloh 2009, S. 25.
[3] Martin Luther bei der Einweihung der Schlosskirche in Torgau 1544, sog. „Torgauer Formel“.
[4] Sacrosanctum Concilium – Konstitution über die heilige Liturgie, Nr. 33.
[5] Reformierte Liturgie, Wuppertal 1999, S. 25.
[6] Jochen Klepper, Tagebucheintrag vom 22. Februar 1939.
[7] Kundgebung der 11. Synode der EKD (5. Tagung) 7. November 2012 „Am Anfang war das Wort...“.
[8] Michael Meyer-Blanck, Inszenierung des Evangeliums, Göttingen 1997, S. 45.
[9] Walter Kardinal Kasper, Vortrag im Ulmer Münster am 22. August 2007.
[10] Dieter Trautwein, Lernproeß Gottesdienst, Offenbach/Berlin 1972.
[11] Michael Meyer-Blanck, Inszenierung des Evangeliums, Göttingen 1997.
[12] Augsburgisches Bekenntnis, Artikel 5.
[13] Wilhelm Stählin, Predigt „Das Urbild des christlichen Gottesdienstes“, 10.4.1950, in: Das Angebot der Freiheit, Bd. I, Stuttgart 1970, S. 264 ff.